Auf dem Weg zur Mit-Leids-Gesellschaft?

Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Armin Schneider

Um es vorweg zu nehmen: Mitleid ist nichts Schlechtes, zeigt es doch eine Empathie, ein Hineinversetzen in die andere Person. So heißt es auch in der Bibel: „Geteiltes Leid ist halbes Leid.“ Im Zuge von Corona sahen und sehen sich viele als Opfer: Als Opfer des Virus, als Opfer der Medien, als Opfer der Geimpften, als Opfer der Nichtgeimpften. Immer sind die anderen schuld. Und auch die Rede von der Systemrelevanz geht in die gleiche Richtung: Fast alle Berufsgruppen sehen sich mittlerweile als systemrelevant, mag dies auch noch so abwegig sein. Hauptsache, man hat Bedeutung für die Gesellschaft, was ja auch nichts Schlechtes ist. Damit verbunden ist oft die Suche nach Mitleid, die Suche nach Menschen, die einem aus der Opferrolle heraushelfen. Aber die Opferrolle ist eine passive Rolle. Sie führt dazu, dass Verantwortung abgeschoben wird und der eigene Anteil am Geschehen zumindest verschleiert wird.

Der Weg heraus aus der Opferrolle

Auf individueller und betrieblicher Ebene das gleiche Spiel: Jede und jeder scheint benachteiligt ob seiner oder ihrer individuellen, manchmal auch selbst gewählten Situation. Sicher, in vielen Fällen ist eine Behinderung oder eine Krankheit ein objektiver oder zumindest objektivierter Grund. Aber davon abgesehen handelt es sich oft um eine Haltung, die von eigenen Versäumnissen oder eigenem Verschulden absieht. Es ist für Führungskräfte nicht leicht, mit Menschen, die sich als Opfer sehen und sich in diese Rolle vertiefen, umzugehen und sie dahin zu führen, dass sie selbst wieder Verantwortung für sich, ihr Leben und ihr Arbeiten übernehmen. Verantwortung, hier vor allem Selbstverantwortung, scheint der Weg aus der Opferrolle hinaus zu sein.

Der Führungsexperte Reinhard K. Sprenger schreibt in seinem 1996 veröffentlichten Buch „Das Prinzip Selbstverantwortung“: „Der Verantwortungsverweigerung zu vieler entspricht komplementär ein Über-Verantwortungsgefühl zu weniger, die meinen, ‚alles im Griff‘ haben zu müssen, obwohl sie sich dabei überfordern. ‚Unten‘ klagt man dann wieder über zu enge Vorgaben. Denn wer nicht entscheidet hat meist gut reden. Von der Tribüne läßt sich bequem urteilen. Die resignativ-kalkulierte Ethik der sauberen Hände durch Passivität verbindet sich mit dem Fingerzeigen auf die, die etwas tun und häufig versagen“ (Sprenger 1996, S. 29). Vielfach, auch im akademischen Kontext, will man zwar überall mitreden, aber nichts verantworten. Kommt es dann schließlich zu Gehaltsverhandlungen oder zu Verhandlungen über Leistungszulagen, haben die gleichen Leute, die vorher nur mitwirken wollten, auf einmal doch sehr viel Verantwortung übernommen.

Möglichkeiten schaffen, aus Fehlern zu lernen

Was hilft aus der Opferrolle und der Passivität heraus? Vielleicht ist es eine Form von Empowerment, die vielen, aber nicht allen aus der Rolle heraushilft. Gerade in sozialen Berufen und Organisationen bedarf es aktiver Menschen, die sich einsetzen, die wirksam agieren und auch andere aus unglücklichen Opferkonstellationen herausholen und ihnen zu mehr Perspektiven, Potenzialen und Horizonten verhelfen. Aus Sicht der Führungskraft: Hüten Sie sich vor der Übernahme von Verantwortung für andere. Oder, wie ich es einmal einer Verwaltungskraft gegenüber betont habe: „Ja, ich kann deine Verantwortung gerne übernehmen, dann benötige ich aber deine Stelle nicht mehr und beanspruche dann auch (zumindest) die Hälfte deines Gehaltes.“ Ermutigen Sie Ihre Mitarbeitenden, selbst Verantwortung zu tragen und daran auch persönlich zu wachsen. Verantwortung heißt zur Rechenschaft ziehen, bedeutet aber nicht, fehlerlos zu arbeiten. Daher: Seien Sie großzügig, wenn Fehler passieren und schaffen Sie Möglichkeiten und Chancen, aus Fehlern zu lernen. Das hilft der einzelnen Person, der Organisation und Ihnen als Führungskraft!


Prof. Dr. Armin Schneider, Hochschule Koblenz, Fachbereich Sozialwissenschaften
Direktor des Institutes für Bildung, Erziehung und Betreuung in der Kindheit | Rheinland-Pfalz (IBEB), Dekan des Fachbereichs Sozialwissenschaften, Mitherausgeber der Blauen Reihe