Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Paul Brandl und Dr. Christian Baumgartner
Informationen zu den Prinzipien der Ethik und den Möglichkeiten der Digitalisierung sind das Ziel dieses Artikels, sodass Befürchtungen über die zu erwartenden Neuerungen durch Information ersetzt werden können. Dabei gehen wir davon aus, dass man nach den vier ethischen Prinzipien arbeiten kann und damit die Möglichkeiten der Digitalisierung zum Wohle der KlientInnen eingesetzt werden können. Deshalb werden eingangs die vier ethischen Prinzipien nach Beauchamp und Childress (2008) vorgestellt. Daran anschließend wird gezeigt, wie das konsequente Anwenden der analogen Prozessorganisation und den dazu passenden digitalen Möglichkeiten zum Wohl der KlientInnen eingesetzt werden kann.
Zunächst zum Verständnis die vier Prinzipien der Medizinethik:
- Die Autonomie der KlientInnen/HeimbewohnerInnen/…
Das Prinzip der Autonomie gesteht jeder Person Kompetenz, Entscheidungsfreiheit und das Recht auf Förderung der Entscheidungsfähigkeit bzw. auf Selbstbestimmungsfähigkeit zu. Es beinhaltet die Forderung der informierten Einwilligung vor jeder diagnostischen und therapeutischen Maßnahme und die Berücksichtigung des Willens, der Wünsche, Ziele und Wertvorstellungen des/r jeweiligen PatientInnen. Dies im Rahmen der geltenden Gesetze. Im Zentrum steht dabei das Aufrechterhalten und Stützen der Autonomie einer Person wie z. B. bei Personen mit Selbstversorgungsdefiziten. Wenn es etwa um die abnehmende Mobilität von Personen geht, wird sich die Frage stellen, mit welchen Maßnahmen die Autonomie dieses Personenkreises möglichst hoch gehalten werden kann. Ohne das Erbringen bestimmter Dienstleistungen sinkt die Autonomie der KlientInnen entsprechend der Entwicklung der Beeinträchtigung und die Unterstützung einer Person wird notwendig werden. In einer ersten Stufe (von 5[1]) kann sich ein/e KlientIn noch selbst helfen, ab Stufe 2 steigt die Wahrscheinlichkeit, dass eine Person unterstützt werden muss bzw. Unterstützung anfordert. Spätestens ab Stufe 3 müssen für eine Person für das tägliche Leben Dienstleistungen erbracht werden. Die Unterstützung nimmt immer mehr einen Fürsorge-Charakter an. Die Form der Versorgung – von der Belieferung bis zur Unterbringung in einer geeignet erscheinenden Form – muss mit der zu versorgenden Person geklärt werden. Davon abhängig ist der organisierende Versorgungsprozess einzurichten. Ganz allgemein können hier die Möglichkeiten der Digitalisierung die analogen Versorgungsprozesse fundamental unterstützen.
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Schadensvermeidung als Leitlinie
Das Prinzip der Schadensvermeidung fordert, schädliche Eingriffe zu unterlassen (unter Berücksichtigung der Nutzen-Risiko-Relation und Beachtung individueller Werte) oder bereits vorausschauend zu vermeiden. Dies basiert auf dem ärztlichen traditionellen Grundsatz „primum non nocere“ („Zuerst einmal nicht schaden“). Dies scheint zunächst selbstverständlich, kann aber in einigen Fällen, bei z. B. akuten Versorgungsengpässen, mitunter dazu führen, dass die Entscheidung schwerfällt, was dem/r Patienten/in hilft oder eher schaden wird.
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Fürsorge
Das Prinzip der Fürsorge (auch Hilfeleistung) verpflichtet den Behandler zu aktivem Handeln, das das Wohl (insbesondere Leben, Gesundheit und Lebensqualität) des/r Patienten/in fördert und ihm/ihr nützt. Die traditionelle ärztliche Ethik formuliert ein ähnliches Prinzip: Das Wohl des/r Patienten/in ist das höchste Gesetz. Dieses ist allen anderen übergeordnet. In der Prinzipienethik sind die vier Prinzipien auf gleicher Stufe. Das Fürsorgeprinzip steht häufig im Konflikt mit dem Autonomieprinzip und dem Prinzip der Schadensvermeidung. Hier sollte eine sorgfältige Abwägung von Nutzen und Schaden einer Maßnahme unter Einbeziehung der Wünsche, Ziele und Wertvorstellungen des/r Patienten/in vorgenommen werden.
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Gerechtigkeit:
Das Prinzip der Gerechtigkeit (auch Gleichheit) fordert eine faire und angemessene Verteilung von Gesundheitsleistungen unter Beachtung der Ressourcen. Gleiche Fälle sollten gleichbehandelt werden, bei Ungleichbehandlung sollten moralisch relevante Kriterien konkretisiert werden. Das Prinzip verlangt eine faire Verteilung der Gesundheitsleistung. So müssen z. B. die Ressourcen und Kapazitäten der Krankenhäuser gerecht verteilt werden. Jeder Krankheitsfall eines Menschen, der gleichwertig zu einem anderen Fall ist, fordert gleiche Behandlung. Ungleiche Fälle dürfen anders behandelt werden, aber nur wenn die Fälle moralisch relevante Unterschiede aufweisen. Ungleichbehandlungen sind nicht gerechtfertigt basierend auf der Nationalität, dem Geschlecht, dem Alter, dem Wohnort, der Religion, der sozialen Stellung oder dem bisherigen Verhalten in der Gesellschaft. Auch vorhergehende Straftaten oder Berufstätigkeiten dürfen bei der Entscheidung nicht einfließen. So wird beispielsweise ein Obdachloser einem Juristen in der medizinischen Behandlung gleichgestellt, sofern sie gleiche Symptome und gleiche Überlebenschancen aufweisen. Die Entscheidung bezüglich einer medizinischen Behandlung muss sachlich begründet, transparent und fair sein.
Wie lassen sich die vier Begriffe der Medizinethik mit der Digitalisierung verbinden?
Beginnen wir mit der Autonomie eines/r Klienten/in und mit seiner/ihrer Entscheidungsfreiheit. Jede Person muss sich aus freien Stücken und daher nachvollziehbar für eine Dienstleistung entscheiden. Die dafür notwendigen Ressourcen werden im Prinzip der Gerechtigkeit angesprochen. Beim Einsatz der Ressourcen geht es um eine faire und angemessene Verteilung von (Gesundheits-)Dienstleistungen und folglich um einen ressourcenschonenden Einsatz beim Erstellen einer Dienstleistung.
Im Sinne der begrenzten Ressourcen spricht dies bei der Bewertung von Dienstleistungen für eine Einteilung in sogenannte extrinsische Reifegrade von Prozessen (y-Achse) und intrinsische Reifegrade der prozessbasierten Dienstleistungen (x-Achse):
1 | 2 | 3 | 4 |
5 |
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Extrinsische (y)/ intrinsische (x) Reifegrade |
Analoge Organisation | Analoge/ digitale Schnittstelle |
Digitale interne Organisation | Digitale Vernetzung | Internet of The Things | |
5 | Ständig verbessert | |||||
4 | Gelebt | |||||
3 | Optimiert | |||||
2 | Beschrieben | |||||
1 | Es läuft |
Die fünf Stufen der extrinsischen Reifegrade (y) sollten den Ressourceneinsatz tendenziell sinken lassen. Es zeigen sich gleichzeitig die Grenzen der Optimierung eines bestehenden Prozesses, wenn versucht wird, einen Prozess ständig nur auf einem intrinsischen Reifegrad zu verbessern[2]. Erst mit dem Erhöhen des intrinsischen Reifegrades – also in fünf Stufen von analog zu agil und digital – kann der Ressourceneinsatz nachhaltig gesenkt werden. Ein Minimieren der einzusetzenden Ressourcen mit steigendem intrinsischem Reifegrad ist so vorprogrammiert und die Relevanz für das ethische Prinzip der Gerechtigkeit zeichnet sich mit der Entwicklung eines neuen Effizienz-Begriffes ab (Brandl/Ehrenmüller, 2019): mit möglichst wenig Ressourcen eine Dienstleistung erstellen. So ist es jeweils auch ein Schritt zu einem kleineren ökologischen Fußabdruck, der sich auch betriebswirtschaftlich rechnen lässt. Damit kommen wir auch zu einem neuen Qualitätsbegriff, der aus dem pQMS extended® bereits bekannt ist (Brandl/Ehrenmüller, 2019):
Damit haben wir ein dynamisches Modell des Qualitätsmanagements erreicht, das in der Lage ist, sich an verändernde Anforderungen für Dienstleistungen anzupassen. Es bedarf damit der ständigen Anpassung an die Entwicklung der Bezugswissenschaften, der Ökonomie und Ökologie, der konsequenten Integration in die IT, des Einhaltens und Weiterentwickelns der juristischen Bestimmungen sowie einer Anpassung an die sich weiterentwickelnde Unternehmenskultur.
Fazit: Diese interdisziplinären Anforderungen können von einer funktionalen Organisation nicht mehr erfüllt werden, da das Optimieren eines Prozesses ein Überschreiten der funktionalen Grenzen erfordert. Der Übergang in die Prozessorganisation ist damit aus ethischer Sicht angezeigt, da insbesondere die Instrumente des Prozessmanagements zur Schadensvermeidung beitragen. So können etwa mit der Darstellung von Prozessen mittels Swimlanes alle Fehlerquellen bzw. Problemzonen eingezeichnet und benannt werden, um anschließend in einem Problemlösungsprozess eingebunden und in gelöster Form implementiert zu werden. Zudem wird durch diese Zergliederung in einzelne Arbeitsschritte eine Möglichkeit geschaffen, sowohl den erforderlichen Zeit- und Ressourcenbedarf abzuschätzen bzw. zu berechnen als auch die erforderlichen Arbeitsschritte ethisch zu beleuchten. Im Sinne eines optimalen Ressourceneinsatzes lassen sich die nichtwertschöpfenden Anteile an den Prozessschritten identifizieren und minimieren. Nach Imai (1991) sind diese Anteile folgend erkennbar:
- Überproduktion: zu viele Medikamente liefern
- Transport: Akten weiterbefördern, statt digital übermitteln
- Lagern: von Lebensmitteln, die damit auch leichter ablaufen
- Warten: etwa das Warten bei dem/der Arzt/Ärztin lässt sich durch bessere Planung vermindern
- Mehrfacharbeit: den Antrag mehrfach vorbringen
- Fehlervermeidung: unleserliche Handschriften
- Veraltete oder reparaturbedürftige Technologie
- Unnötige Bewegungen: täglich Medikamente holen/bringen, umständliche Arbeitsabläufe
- Fehlende Qualifizierung bei MitarbeiterInnen
- Im Sinne des Risikomanagements ist auch für diese vulnerablen Gruppen ein Höchstmaß an Hygiene durch „kontaktarmes“ Arbeiten einzuplanen: Digitalisierung hilft auch hier.
Im Zuge der Vermeidung zumindest eines Teils der unnötigen Prozessanteile wird die Wirtschaftlichkeit eines Prozesses erhöht und gleichzeitig auch der ökologische Fußabdruck verkleinert. Damit ist wiederum Freiraum für eine gerechtere Aufteilung der Ressourcen geschaffen. Bei einem digital unterstützten Ablauf ist besonders das Prinzip der Schadensvermeidung gut nachvollziehbar, wenn eine digitale Übertragung etwa eines Antrags schnell, hygienisch und fehlerlos läuft. Verbunden damit ist auch eine Verminderung des Arbeitsaufwands bei allen beteiligten Arbeitsschritten und Personen.
Zum Abschluss noch eine ganz allgemeine Betrachtung eines Prozesses zur Verminderung des Ressourceneinsatzes. Ein Prozess wird in drei Dimensionen unterteilt: Input – (Teil-)Prozesse – Output (Brandl, 2021):
Damit kann der Prozessablauf hinsichtlich der einzusetzenden Ressourcen bestmöglich gesteuert werden und zu einem möglichst bedürfnisgerechten Output führen. Ein geschlossener digitaler Kreis ermöglicht zudem ein präzises Nachvollziehen der Aktivitäten der handelnden Personen.
Speziell zum Personalmangel sei auf einen früheren Artikel verwiesen: https://www.fokus-sozialmanagement.de/personalmangel-wenn-das-optimieren-von-prozessen-nicht-mehr-ausreicht/
FH-Prof. Dr. Paul Brandl lehrte an der Fachhochschule Oberösterreich Campus Linz, Department Gesundheits-, Sozial- und Public Management in den Bereichen Organisation und Qualitätsmanagement. An diversen Hochschulen nimmt er Lehraufträge wahr und berät im Bereich der Sozialwirtschaft.
Seine Forschungsinteressen gelten dem Prozessmanagement, dem Qualitätsmanagement sowie moderner Dienstleistungsentwicklung.
Dr. Christian Baumgartner, Jahrgang 1975, Studium der Chemie an der Universität Wien. Mehrere Stationen in der Pharmaindustrie. Seit 2012 im Bereich Neuverblisterung tätig, übernimmt er mit der Gründung von MEDventuro GmbH in 2020 deren Geschäftsführung. Unter seiner Leitung wurden mehrere Verblisterungsprojekte umgesetzt, unter anderem die Neuverblisterung von Suchtgiften sowie die Einführung der Neuverblisterung in der mobilen Altenpflege.
Verwendete Literatur:
Beauchamp, Tom L./Childress, James F. (2008): Principles of Biomedical Ethics. 6. Auflage. Oxford University Press.
Brandl, Paul/Ehrenmüller, Irmtraud (2019): pQMS extended: Neues Qualitätsmanagementsystem für die Langzeitpflege: prozessbasiert – erweiterbar – effizienzsteigernd. Regensburg: Walhalla.
Imai, Masaaki (1991): Kaizen: Der Schlüssel zum Erfolg im Wettbewerb, Berlin: Ullstein Taschenbuch.
[1] Die Skala hat jeweils fünf intrinsische und extrinsische Reifegrade und damit jeweils fünf Stufen
[2] Man kann eine Kerze beständig optimieren. Zu einer nennenswerten Verringerung des Ressourceneinsatzes wird erst der Einsatz von LED´s führen.